Gschichtle von früher
Martin schickte mir einige unbekannte Fotos
in der Annahme, ich würde die Personen kennen und vielleicht sogar
einiges über sie schreiben können. Das eine zeigt einen recht
stattlichen Mann mit einem schwarzen Hut, mit einem Graskorb, offensichtlich
bei der Gartenarbeit.
Ich habe diesen Mann noch nie gesehen, dafür
bin ich einfach zu jung! Aber ich habe ihn dennoch auf den ersten Blick
identifiziert und erst recht ging es Lothar so, als ich ihn in Neuenburg
besucht habe und ihm, neben meinen Gschichtle, diese Foto präsentiert
habe.
Ich kenne ihn so gut, weil meine Eltern
so oft und so viel über ihn gesprochen haben, dass er sich in mein
Gedächtnis förmlich eingegraben hat.
Um meine Ausführungen überhaupt
verstehen zu können bedarf es einer kleinen Vorgeschichte.
Mein Vater hat mit unsäglicher Mühe
und Entbehrungen auf dem Längenberg ein kleines Haus gebaut. Nachdem
er im Steinbruch Contini die Steine selbst zugerichtet hatte, hat er die
Grundmauern eigenhändig und ohne den Einsatz heutiger Maschinen errichtet.
Damit nicht genug.
Längenberg in den 50ern
Frieda und Johann Ganter (hinten) am Längenberg
Die Großmutter und der Stiefgroßvater von Hubert.
Selbst sämtliche Zimmermannsarbeit und
alles andere war seiner Hände Arbeit. Zu dieser Zeit betrieb er im
heutigen Haus Schindler (Villa Contini) eine Friseurstube.
Das Schild am Haus Schindler (Villa Contini) weist auf die Frisierstube
Ganter hin.
Schon Anfang der 3o er Jahre war der Eichwald
ein kleines Zentrum. Dort gab es schon Geschäfte und vor allem war
dort als absoluter Mittelpunkt die Notkirche. Welche Geschäfte dort
waren, habe ich im Gschichtle Nr.55 in Reimform
aufgezählt wo es da heißt:
"Hier ein leidenschaftliches Plädoyer
für den Standort Eichwald"
Angefangen von "Wurst und Speck" bis
zum Satz:
"Warum musst´ die Kirche weg?"
habe ich dargestellt, dass der Eichwald
damals, verglichen mit anderen Zinken des Ortes, tatsächlich ein kleines
Zentrum war.
Die ersten beiden Häuser neben der Notkirche im Eichwald 1908
- danach entstand ein richtiges Zentrum
Folgerichtig haben sich meine Eltern entschlossen,
sich ein zweites Mal alle Mühen, Entbehrungen und Strapazen aufzuerlegen,
um im "Zentrum", direkt neben der Kirche, ein Haus, nein, ein Geschäftshaus
zu errichten.
Das war in den Jahren 1929/3o.
Das Haus Ganter im Bau 1929
Die Nachbarschaft zur Kirche war für
einen Fotografen besonders attraktiv. Dass zur Kirche auch ein Wirtshaus
gehört ist so selbstverständlich und überall in Deutschland
der Fall, dass ich es nicht erwähnen müsste. Oder könnte
mir jemand von euch einen Ort nennen, in dem neben der Ortskirche keine
"Wirtschaft" zu finden ist?
Geschäftswelt des Eichwaldes in den 30ern: Gasthaus Eichwald,
Metzgerei Pfeffinger, Gemischtwaren und Brennstoffhandel Weck, Friseur
und Photograph Ganter
Aber für einen Fotografen kommt hinzu,
dass die Kunden sich natürlich in bester Kleidung "ablichten" lassen
wollen, und welcher Zeitpunkt wäre da besser geeignet, als der Sonntagmorgen
nach der "Kirche" zu Ganters zu gehen?
Friseur und Fotogeschäft: Johann und Frieda Ganter und ein angestellter
Friseur
Kaum war das Haus fertig kamen einige honorige
Herren auf die Idee, die Kirche muss auf den Hungerberg. Dass das Pfarrhaus
schon da stand und die Pläne für die neue Kirche schon fertig
waren, spielte wohl keine Rolle. Ich komme nicht umhin, Gedanken los zu
werden, die ein anderer nur schwer versteht: So war das Pfarrhaus damals
ein unglaublich teuer und aufwändig gebautes Haus, selbst der Holzschopf
war aus ganz exakt und fein zugehauenen Granitsteinen bis hinauf zum Giebel
gemauert und wenn ich in diesem Zusammenhang daran denke, wie mein Vater
die Steine selbst zugehauen hat und wie unzählige andere Bauherren
sich ein Leben lang krummgelegt haben, um zu einem eigenen Heim zu kommen,
so erfasst mich noch heute die Emotion, diese Zeilen zu schreiben.
1909 gebaut das Pfarrhaus mit "Schopf" aus Granit.
30er: So gehört es sich: Pfarrhaus und Kiche nebeneinander, rechts
oben der "leere Hungerberg"
Die Person auf dem alten Foto ist Herr Pfarrer
Engesser, der spätere Stadtpfarrer von Singen. Er hat die Trommeln
gerührt, die neue Kirche auf den Hungerberg zu bauen. Aber nicht nur
er war die treibende Kraft, den Gemeinderat auf diese Linie zu bringen,
vielmehr war es eine Privatperson, die das große Sagen hatte und,
natürlich mit Geld (was sonst zählt wirklich?) es erreicht hat,
ganz persönliche Wünsche und Ansichten durchzusetzen. Ich weiß
darüber aus verschiedenen Quellen, der Name spielt jetzt keine Rolle
mehr, lassen wir "die Kirche im Dorf", man kann ohnehin nichts mehr ändern
und wie heißt es so schön und einprägsam:
"So sei es!" in Kurzform: "Amen!"
Eichwald in den 30ern
Die Notkirche
Bergseite der Notkirche
Der Grundstein am Hungerberg wird 1936 gelegt
Das Ende der Kirche im Eichwald naht.
Das Bauwerk auf dem Hungerberg wächst.
Herbst 1937
Das Ende im Januar 1938
50er: Auf dem früheren Gelände der Notkirche ist die Firma
Schmidt entstanden.
Es hätte genügend Platz für eine größere
Kirche im Eichwald gegeben !!!
Ich habe mich in allen meinen kleinen Erzählungen
darum bemüht, möglichst Positives zu berichten, auch Lustiges
und vor allem habe ich immer Wert darauf gelegt, niemandem auch nur im
Entferntesten zu nahe zu treten. Beim Eichwaldfest hat mich gerade deswegen
jemand angesprochen und gemeint, es kann sich doch nicht nur Angenehmes
und Schönes zugetragen haben. Meine Antwort: "Ich wüsste natürlich
auch anderes zu berichten, das ist nicht meine Sache, ich liebe es eher,
Positives zu berichten und es macht mir auch Spaß, kleine Vorkommnisse
möglichst locker darzustellen."
Man möge sich einmal in die Lage meiner
Eltern versetzen. Vergleichsweise wäre das ungefähr so, als würde
man heute ein Wohnhaus bauen in der absoluten Gewissheit, die angrenzenden
Grundstücke sind kein Bauland und kurze Zeit darauf führt eine
Umgehungsstrasse am Gartenzaun vorbei.
Zum Schluss möchte ich noch mal aus
Nr.55 zitieren und dann bin ich befreit von allen negativen Erinnerungen:
"Wer hat die Laus wohl diesen Herren,
die heut´ noch wären einzusperren
ins Hirn gesetzt. -Die kranken Geister?
"Bald zugeschmiert mit dicken Kleister!" Und diesen Kleister der Vergangenheit habe ich heute ein wenig aufgekratzt und der Wahrheit ein bisschen ans Licht verholfen.
Vielen Dank an Hubert !