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Gschichtle aus dem
Bühlertal



Gschichtle 33:
Ein Geschwisterchen – dank Klapperstorch
von Renate Baumann

(30.9.2007)



 „Mechdsch noch ä Gschwischderle?“(1), fragte mich mein Vater, als ich in der ersten Klasse war.
„Nadierli“(2), konnte meine Antwort nur lauten. Ich war seit Jahren eine liebevolle Puppenmutter. Meine Schildkröt-Puppe war wiederholt in der Puppenklinik bei Friseur Vierthaler(3) gewesen und hatte immer pünktlich repariert und meist mit einem neuen Kleid unter dem  Christbaum gestanden. Nachdem aber mein zwei Jahre jüngerer Bruder, der damals noch Karle gerufen wurde, diese Puppe mehrmals hatte fallen, hatte Herr Vierthaler


Mein Bruder Karl und ich
etwa zwei Jahre vor Ankunft
unseres jüngeren Bruders
(Wir posierten sonntäglich
angezogen im Untertäler
Atelier des Fotografen
Ganter.)

sie nicht mehr reparieren können. Auf dem Heimweg vom Untertäler Kindergarten war mir im vorhergehenden Herbst bei der Häußler Bertel(4)  im Schaufenster eine Puppe aufgefallen, die ich meiner Mama einmal ganz aufgeregt zeigte. Als genau diese Puppe unter dem Christbaum lag, konnte ich es nicht fassen, dass das Christkind meinen sehnlichsten Wunsch geahnt und sogar erfüllt hatte. Ich kleidete die geliebte Puppe täglich um und führte sie im Puppenwagen spazieren, aber auf Dauer störte mich, dass ich sie nicht füttern konnte und dass sie sich nicht bewegen und sprechen konnte. Deshalb zog ich manchmal unseren jungen Katzen Puppenkleider an und legte sie in den Puppenwagen. Einmal badete ich ein Kätzchen so hingebungsvoll, dass es die Prozedur nicht überlebte.
Wenn ich aber ein kleines Geschwisterchen hätte, wäre das natürlich wie eine lebendige Puppe! „Du muesch aber Zuggerle vors Fenschder lege. Wenn der Schdorch se hold, bringd er ä Kind“(5), fuhr mein Vater fort. Das musste er mir nicht zweimal sagen. Noch am selben Abend legte ich mehrere Zuckerwürfel vor das Küchenfenster und stellte am nächsten Morgen erfreut fest, dass sie verschwunden waren. Der Storch hatte sich also auf den Handel eingelassen!
Außer der Möglichkeit, vom Klapperstorch ein Geschwisterchen zu bekommen, hatte ich bereits  von der mit dem Kindelsbrunnen gehört.(6)  Auf unseren Streifzügen durch die nähere Umgebung hatte ich mit meinem Bruder an diesem einmal gelauscht und vergeblich auf Kindergeschrei gewartet. Dass Kinder wie „Brunnemiederle“(7)  im Wasser leben sollten, kam mir sowieso eigenartig vor. Da vertraute ich doch eher dem Storch. Wenn wir in Bühl in der Nähe des heutigen Schwimmbads Heu machten, sah ich oft Störche durch die Wiesen stolzieren und nach einem Frosch schnappen. Sie hatten zwar nie auslieferungsfertige Kinder im Schnabel, aber vermutlich suchten sie untertags Nahrung um sich für ihre schwierige Aufgabe zu stärken. Folglich führten sie ihre Aufträge spät abends oder nachts aus.
Als ich wenige Tage später von der Schule heimkam, war Mama nicht da. Meine Tante Elise, eine ledige Schwester meiner Mutter, die bei uns im Haushalt wohnte, erzählte, dass Mama am Morgen ins Storchenheim(8) gegangen sei. Das hörte sich spannend an! Und überhaupt wollte der Storch unsere Bestellung erstaunlich schnell ausführen. Am frühen Nachmittag eilte Vater nach der Arbeit in der Bäckerei Zimmermann zu Mama. Der Storch war noch nicht gelandet. Aber am nächsten Nachmittag kam Vater strahlend  heim: „Der Schdorch hed die Mama ins Bei gezwiggd und in Buä gebrochd“.(9)  Um Himmels willen! Ging das denn nicht ohne Biss? Am nächsten Tag ging ich natürlich – besorgt und aufgeregt - auch mit ins Storchenheim.


links: Storchenheim; rechts: Krankenhaus

Mein erster Gedanke galt diesem Biss. „Mama, zeig mol, wu dich der Schdorch nogebisse hed!“(10), rief ich und zog bereits die Bettdecke weg. Zu meiner Enttäuschung konnte ich an beiden Beinen meiner Mama keine Bisswunden oder zumindest blaue Flecken erkennen. Das musste ein sanfter Storch gewesen sein! Schließlich nahm ich auch meinen kleinen Bruder in Augenschein.
Die Begeisterung über mein Brüderchen, das Bernhard getauft wurde, dauerte nicht lange. Wenn ich helfen durfte, ihm das Schobbele(11) zu geben, war der schwere Kerl nicht so einfach wie meine Puppe zu handhaben. Außerdem beraubte er mich bald meiner nachmittäglichen Freiheit. Wenn Mama ihn im folgenden Frühjahr und Sommer zum Mittagsschlaf hingelegt hatte und Vater auf dem Feld half, musste ich auf den kleinen Bruder aufpassen. Nach den Hausaufgaben trieb ich mich mit meinem Bruder Karle im Hof herum. Sobald Bernhard aufwachte und „roch“, sollten wir die Windeln wechseln. Manchmal „überhörten“ wir in unserem Spieleifer einfach sein Schreien. Meistens siegte aber das Pflichtbewusstsein. Dann


Mein Bruder Karl und ich mit dem kleinen Brüderchen
Bernhard

hievte mein Bruder Karle dem Brüderchen die Beine hoch, während ich mit Stoffwindeln für Sauberkeit sorgte. Mama war jedes Mal über die Unmenge Windeln entsetzt, die wir bei unserer Putzaktion verwendet hatten. Zum Glück hatte Vater bald nach Bernhards Ankunft ihr ihre erste Waschmaschine gekauft,  und so musste sie nicht mehr in dem großen Waschkessel waschen.
Jahre später fand ich ein Bild von der Taufe meines jüngsten Bruders, das beweist, dass außer


Mein stolzer Vater, Albert Kögel,
   mit der Armbruster-Hebamme bei der Taufe
   meines jüngsten Bruders

dem Storch - und den Belegärzten - die Armbruster-Hebamme(12) meiner Mama zu dem Kind verholfen hatte und zum Dank dafür zur Taufe eingeladen worden war.
In den nächsten Jahren erfuhr ich von Mitschülerinnen und älteren Spielkameraden, dass es noch eine dritte geheimnisvolle Art gebe, damit eine Frau ein Kind bekomme. In diesem Fall spiele sogar ein Mann eine Rolle. Nachdem ich Jahre später auf diese Weise Söhne bekommen habe, kann ich im Nachhinein nur sagen, dass die Kinderlieferung durch den Klapperstorch eigentlich die einfachere Art gewesen wäre. Aber in den 1970er und 1980er wollte keiner mehr etwas vom guten alten Klapperstorch wissen.



Anmerkungen:
1 „Möchtest du noch ein Geschwisterchen?“

2 „Natürlich.“

3 August Vierthaler führte damals in dem Haus unterhalb des „Grünen Baum“ einen Friseursalon. Seine
   Puppenklinik bestand aus einem Koffer mit Spezialwerkzeugen und  Ersatzteilen für Schildkrötpuppen.

4 Bertel Häußler hatte gegenüber dem „Deutschen Kaiser“ ein Spiel- und Haushaltswarengeschäft, das ihr Sohn
   Horst bis diesen Sommer weiterführte.

5 „Du musst aber Zuckerwürfel vor das Fenster legen. Wenn der Storch sie holt, bringt er ein  Kind.“

6 Der Kindelsbrunnen war eine Brunnenstube am Anfang des Butzengrabenwegs gegenüber dem Haus von Paul
   Berberich, das es damals wie die anderen Häuser noch nicht gab.

7 junge Wassermolche

8 Storchenheim hieß die Entbindungsstation neben dem Untertäler Krankenhaus.

9„Der Storch hat Mama in das Bein gezwickt und einen Jungen gebracht.“

10 „Mama, zeig einmal, wo der Storch dich gebissen hat!“

11 Babyfläschchen

12 Rosa Armbruster wohnte damals am Ende der Untertäler Hauptstraße in einem alten Holzhaus vor der
   heutigen Unterführung zum Schwimmbad.
   Offensichtlich wurden die Hebammen früher zum Dank für ihren Beistand zur Taufe des Kindes und zum
   anschließenden kleinen Fest eingeladen.
   Wie die Naber-Hebamme aus der Liehenbach und die Obertäler Dehm-Hebamme gehörte die Armbruster-
   Hebamme zu der Hebammengeneration, die in einer Zeit, als es noch viele Hausgeburten in den
   abgelegensten Ortsteilen gab, bei Wind und Wetter zu Fuß in der „Mission Storch“  unterwegs  war.



Das Gschichtle ist absolut klasse !
Hoffentlich eifern noch viele Besucher der Homepage Renate Baumann nach - und
liefern uns auch ihre Kindheitserinnerungen in Gschichtle-Form !
Ich veröffentliche sie sehr gerne !

Vielen Dank an Renate Baumann !
Der Webmaster



zu Gschichtle 34: "Morge bringsch noch en zweite Löffel mit"-von Axel Dietrich (10.11.07)

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